Wer mich kennt weiss, dass ich seit gefühlt 100 Jahren ungeschminkt durch das Leben laufe. 🙂 Dennoch ist es mal an der Zeit, die Karten offen und ehrlich auf den Tisch zu legen. Viel zu oft verstecken wir uns nämlich hinter unserem Panzer, den wir jahrelang in mühevoller Kleinstarbeit aufgebaut haben.

Ich glaube, jede Betroffene hat sie schon mal gehört! Diese Phrasen, die im Ohr widerhallen und sich für immer ins Gedächtnis einbrennen! Sätze wie

Iss doch einfach weniger, dann wird das schon! oder

Wenn Du abnimmst, geht das weg! oder

Stell Dich nicht so an, so schlimm können die Schmerzen nicht sein! oder

Du musst Dich mehr bewegen, dann verbrennst Du auch mehr!

So oder ähnlich klingen die Sätze, die wohlverpackt als Ratschläge daherkommen sollen, aber einfach nur verdammt weh tun. Was aber richten sie an? Darüber macht sich der, der sie ausspricht, keine Gedanken. Schließlich sind es ja nur gut gemeinte Ratschläge.

Auch ich habe diese Sätze immer und immer wieder gehört. Sie begleiteten mich seit früher Teenagerzeit. Als ich jünger war, bin ich oft verzweifelt, weil auch nach der x-ten Diät die Beine sich nicht verändert haben, einfach dick und unförmig blieben. Mein Kopfkino glich einem Karussell, das sich immer schneller drehte. Irgendwie ging es gefühlt immer um das Thema Essen. Was darf ich essen? Was darf ich nicht essen? Wann darf ich essen? Das wiederum führte dazu, dass ich eigentlich gar nicht mehr essen mochte, wenn andere dabei waren. Denn dann würde ich Gefahr laufen, dass wieder es wieder Kommentare fallen könnten wie „kein Wunder das Du nicht abnimmst, wenn Du sowas isst„. Hat es jemand mitbekommen diese innere Zerrissenheit? Natürlich nicht. Denn auch ich habe mir über die Jahre einen ziemlich stabilen Panzer zugelegt, an dem alles abprallte.

Immer wieder habe ich meinen Körper mit neuen Diäten drangsaliert, um einem Ideal hinterher zu hecheln, dass es für mich aber in der Form nie geben würde. Nur wusste ich das nicht und so habe ich ihn total aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich war sozusagen der personifizierte JoJo-Effekt. Essen wurde etwas, dass nichts mit Spaß und Genuss zu tun hatte. Es war einfach notwendig, um zu überleben. Und permanent stellte ich mir die Frage, was nicht mit mir stimmte. Warum bin ich in diesem Teufelskreis aus kleinem Erfolgserlebnis und tiefer Niedergeschlagenheit wegen einer Diät gefangen? Psychisch war das über Jahre sehr anstrengend. Dieser Diätenterror machte mich mürbe. Ich hatte regelrecht Angst vor dem Essen. Beim Einkaufen war ich verzweifelt, weil ich einfach nicht mehr wusste, was ist gut für mich und was lass ich lieber weg. Was für „Normalsterbliche“ ein völliger Selbstgänger im Supermarkt ist, war für mich der reinste Horror. Bestimmt schaute jeder in meinen Einkaufswagen und verurteilte mich für das, was darin lag. Die Selbstzweifel frassen mich auf. Aber diese andauernde psychische Belastung bekam keiner mit.

Als ich Ende 2017 die Diagnose Lipödem bekam, war das erstmal wie ein Schlag ins Gesicht. Ich wollte mich nicht hinter einer Krankheit verstecken. Dennoch fiel ein Stück Ballast von mir ab. Je mehr ich mich mit dem Thema befasste, umso besser ging es mir mit der Diagnose. Nicht weil ich jetzt sagen konnte: hey, ich bin krank! Nein, viel mehr konnte ich nun nach und nach verstehen, warum meine Beine so sind, wie sie sind. Ich konnte die Schmerzen einordnen, die mich manchmal um den Verstand brachten. Ich verstand plötzlich, warum mein Körper in den letzten Jahrzehnten auf so vieles einfach nicht reagierte. Ja, im Nachhinein kann ich sagen, es war eine Erleichterung. Nun wusste ich, das mit mir alles in Ordnung ist und ich von jetzt an die Chance hatte, nach Lösungen zu suchen.

Das Online-Magazin Lebensfreude-Aktuell hat einen tollen Artikel zum Thema Lipödem herausgebracht. Hier kannst Du nochmal nachlesen, was die Symptome/Ursachen und möglichen Therapien sind.

Nun bin ich also seit über zwei Jahren dabei herauszufinden, was mir und meinem Körper gut tut. Es gibt Tage, da gelingt es mir besser. Es gibt aber auch Tage, da fällt es mir verdammt schwer. An solchen Tage bin ich dankbar, dass ich das Laufen für mich entdeckt habe. Es erdet mich, holt mich zurück ins Hier und Jetzt und lässt mich für den Moment glauben, alles ist in Ordnung.

Das Thema Essen ist noch immer einer der bestimmenden Teile in meinem Leben. Aber so langsam erlange ich ein für mich gesundes Verhältnis in Bezug auf Essen. Das ist aber gar nicht so einfach. Es ist ein langwieriger Prozess. Alte Verhaltensmuster, die sich über Jahrzehnte ins Gedächtnis eingebrannt haben, müssen abgestellt werden. Die immer wiederkehrenden Selbstzweifel müssen ausgeräumt werden. Um auf den richtigen Weg zu kommen, habe ich mir Hilfe geholt. Ich arbeite seit Mitte April mit einer Ernährungsberaterin zusammen. Stück für Stück reissen wir Mauern ein. Zusätzlich tausche ich mich mit einer Trainerin für Persönlichkeitsentwicklung aus. Mit ihr arbeite ich vorwiegend in den  Bereichen Meditation und Selbstreflektion, um mit den immer wiederkehrenden Zweifeln und Gedanken besser umgehen zu können.

Mir Hilfe zu holen, war das Beste, was ich machen konnte. Ich kann es nur jeder Betroffenen empfehlen. Wenn Ihr keinen Ausweg findet oder Euch wie im Hamsterrad gefangen fühlt, schaut das Ihr jemanden an die Seite bekommt, der Euch unterstützen kann. Ihr müsst da definitiv nicht alleine durch.

Passt auf Euch auf und seid lieb gegrüßt,

Eure Yvonne